Außen vor
Ich weiß nicht, warum ich dieses Buch mit in den Winterurlaub in die ligurischen Alpen genommen hatte. Ja, warum ich »Kleriker - Psychogramm eines Ideals«, diesen 900seitigen Schinken von Eugen Drewermann überhaupt lesen musste. Die Entscheidung, mein Leben bestimmt nicht dem Priesteramt und Zölibat zu widmen, hatte ich bereits getroffen. Natürlich bezog ich die im Buch aufgeführten psychischen Dispositionen dennoch auf mich - ich war erst Anfang zwanzig. Und hatte ich nicht immerhin mit der Idee gespielt, Geistlicher zu werden? So saß ich im Eurocity von Mailand nach Köln und las die letzten Kapitel, wenn auch nur noch widerwillig - so wie man einen üblen Film hinter sich bringt, bei dem man den richtigen Zeitpunkt aufzustehen bereits verpasst hat.

Als ich in Mailand zustieg, saßen sie schon im Abteil: Ein älterer Herr sowie eine Frau Mitte dreißig mit Sohn und Tochter, vielleicht fünfzehn und zehn Jahre alt. Mutter und Sohn saßen am Fenster, das Mädchen in der Mitte. Nachdem ich mein Gepäck verstaut hatte, setzte ich mich daneben auf den freien Platz zur Gangseite, packte mein Buch aus und las.

Es dauerte eine ganze Weile, bis mir auffiel, dass von der Frau und ihren Kindern eine merkwürdige Atmosphäre ausging. Sie schien regelrecht abwesend zu sein und sah die meiste Zeit aus dem Fenster. Ihr Sohn am Festerplatz gegenüber kam sich eine Spur zu groß vor; der Ton, in dem er mit seiner jüngeren Schwester sprach, hatte etwas Altkluges, Bestimmendes, als wäre er ihr Onkel oder Vater, nicht ein nur wenige Jahre älterer Junge. Wenn er überhaupt mit ihr sprach, denn die Versuche der Kleinen, mit ihm oder der Mutter ein Gespräch anzufangen, verliefen meist nach kurzer Zeit im Sand. Ich stellte mir vor, die drei hätten vielleicht über die Weihnachts- und Silvestertage den getrennt lebenden Vater in Italien besucht. Auf jeden Fall schienen sie normalerweise ohne Vater zu leben, und die vergangenen Tage waren offenbar nicht gut verlaufen.

Während sich die vierzehn Waggons durch wolkenverhangene, verschneite Täler Richtung Deutschland schlängelten und Drewermann krankhafte Familienstrukturen analysierte, verlagerte sich meine Aufmerksamkeit nebenher auf die Familie. Und mir fiel auf, dass dieses Mädchen im Abseits stand, nicht nur, weil weder Bruder noch Mutter mit ihm spielen oder sich unterhalten wollten. Irgendwann legte sie ihre Füße auf den Sitz gegenüber, woraufhin ihr Bruder sie umgehend zurechtwies, dabei berührte sie ihn nicht einmal mit ihren Füßen. Als sie nicht sofort hörte, wandte er sich an die Mutter, die ihr befahl, die Füße wegzunehmen - aber nicht wegen des Sitzes, sondern um ihren Bruder nicht zu ärgern. Und so war es generell: gleich, was sie sagte oder tat, ihr Bruder hielt dagegen und die Mutter prinzipiell zu ihm. »Ihr seid immer so doof«, sagte sie irgendwann; es sollte aufsässig klingen, doch ihre Stimme zitterte dabei, als würde sie gleich anfangen zu heulen.

Später hinter der deutschen Grenze, während in der Ferne der Schwarzwald vorbeizog, holte die Mutter einen Walkman und zwei Kopfhörer heraus und sie hörten gemeinsam Musik. Nur sie und ihr Sohn. Sie blickten beide aus dem Fenster, während die Kleine neben ihr saß, nichts mit sich anzufangen wissend, ohne eigenen Kopfhörer jetzt auch noch akustisch ausgeschlossen. Ich hatte längst aufgehört, konzentriert zu lesen, stattdessen stieg meine Wut. Was war das eigentlich für ein Scheißspiel? Was war los, dass die Mutter ihren Sohn wie einen Pascha behandelte und das kleine Mädchen komplett ignorierte? Sollte ich etwas sagen? Aber wie konnte ich einer wildfremden Frau irgendwelche Vorhaltungen machen.

Irgendwann lehnte sich das Mädchen an ihre Mutter, wollte den Arm um ihren Rücken legen. Die Frau drückte es in einer Reflexbewegung mit Widerwillen von sich weg. »Was hat ihnen die Kleine eigentlich getan?«, schrie ich sie an, »Sehen Sie nicht, dass sie sich nur anschmiegen wollte? Warum schließen Sie sie von allem aus?«. Die Frau sah mich erschrocken und fassungslos an. Der alte Mann gegenüber bewegte nicht einen Gesichtsmuskel, weder er noch wir schienen für ihn überhaupt anwesend zu sein. Der Sohn erinnerte sich nach kurzer Starre an seine Beschützerrolle: »Mischen Sie sich bitte nicht in die Erziehung meiner Mutter!«, sagte er unbeholfen, worauf er gleich auch eine Salve abbekam, wie er mit seiner Schwester umginge und sich aufführen würde.

Als ich alles losgeworden war, was sich die ganze Zeit im Stillen angestaut hatte, verließ ich aufgewühlt das Abteil. Ich hielt es darin keinen Moment mehr aus - weniger wegen der Familie, sondern weil ich selbst die Kontrolle über mich verloren hatte. Die restlichen Stunden der Fahrt verbrachte ich so auf dem Gang ein paar Meter vom Abteil entfernt, sah hinaus, rauchte immer wieder, die Ellenbogen auf den eiskalten, beigefarbenen Fensterrahmen gestützt, während sich der Zug im Rheintal langsam Richtung Köln vorarbeitete, und grübelte, ob das richtig war oder ob ich nicht alles noch viel schlimmer gemacht hatte. Zwischendurch erhaschte ich ab und zu einen Blick ins Abteil. Mutter und Sohn starrten noch abwesender in die Landschaft als zuvor, doch das Mädchen hatte ihren Kopf jetzt im Schoß der Mutter vergraben, die ihr fortwährend über das Haar strich.

Kurz vor Köln, wo ich umsteigen musste, betrat ich wieder das Abteil. Ich packte meine Sachen zusammen und hob meine Reisetasche aus dem Gepäcknetz. »Es tut mir leid, dass ich Sie angeschrien habe«, sagte ich. Sie sah mich ruhig und traurig an. »Ist schon gut«, sagte sie leise und mit leichtem Nicken, »ist schon gut.«

blue sky @ 27.02.2006 | ... comment

 
Eine mitreißende und fetzende Geschichte.
Sie erzählen das so dicht, Herr bluesky, daß man den Eindruck bekommt dabei gewesen zu sein. Aber es ist natürlich auch dieses unangenehme déjà-vue-Gefühl.
Ähnliche Situationen habe ich auch schon erlebt. Ähnlich jedenfalls bis zu dem Punkt, wo Sie eingegriffen haben.
Selbst wenn Sie vielleicht etwas zu heftig reagiert haben, weil Sie vielleicht auch zu lange damit gewartet haben - Sie sind jedenfalls nicht stumm geblieben, nicht teilnahmslos wie fast alle andern, sondern Sie haben sich eingemischt.
Das sollte viel öfter passieren.
Vielleicht besser dergestalt, daß die, in deren Leben man sich einmischt, auch Gelegenheit bekommen sich zu erklären bzw überhaupt direkt zu reagieren.
Sie können ruhig dazu stehen, daß Sie so eine Situation nicht mit ansehen wollen und können.

... link  

 
Ich mache mir da auch keine Vorwürfe, zumal es mir selbst zu der Zeit alles andere als gut ging. Heute würde ich sicher anders reagieren, in die Richtung wie Sie schreiben: früher wohl, auf jeden Fall ruhiger und offener. Mit seiner Kritik etwas Positives zu bewirken, kann man vermutlich trotzdem immer nur hoffen.

... link  


... comment
 
Im Grunde genommen kann ich Herrn Grapf nur zustimmen und eine Wiederholung herunterleiern, aber ich tu das jetzt trotzdem.

Es ist wichtig, nicht wegzuschauen, sondern wahrzunehmen, und, wenn es zu arg wird, auch etwas zu sagen. Man kann natürlich nicht abschätzen, was das dann bewirkt, aber solange die Chance besteht, dass die Einmischung etwas zum Guten bewegt, sollte man es tun. Es gibt zu viele Wegschauer.

Über Ihren Weg, die Einmischung anzubringen, mag man denken, was man will, menschlich jedenfalls ist er. Ihre Entschuldigung am Ende jedenfalls ist ein Zeichen von.. äh, Größe? Irgendwie so etwas ist es, bestimmt :)

... link  

 
eine schöne geschichte, die sie da geschrieben haben.

... link  


... comment


To prevent spam abuse referrers and backlinks are displayed using client-side JavaScript code. Thus, you should enable the option to execute JavaScript code in your browser. Otherwise you will only see this information.